Figurenretter erzählt vom Neubeginn
Erstausstrahlung im ORF: 18. Dezember 2023
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 27. Dezember 2023
Mit einer Figur ist das Werk des 1961 in Bregenz geborenen Wolfgang Hermann besonders stark verknüpft: dem sympathischen Antihelden Herr Faustini. Warum Hermann seine Figuren am liebsten retten will und er keinen Genuss aus dem Untergang zieht, erklärt er im ›Archive des Schreibens‹-Gespräch (siehe Video).
Herr Faustini führt eine ganz und gar harmlose und unscheinbare Existenz. Die einzige Frau in seinem Leben ist die Putzfrau, und sogar der geht er nach Möglichkeit aus dem Weg, obwohl sie bei ihrer Arbeit jedes Mal ein weiteres Erinnerungsstück zerbricht. Eines Tages beschließt Herr Faustini, sein Leben zu ändern. Seine Tage sollen nicht mehr als »hässliche Klumpen« bleischwer auf ihm lasten, sondern als Abfolge von Abenteuern mit ständig neuen Überraschungen aufwarten. Alles kulminiert in einem nie da gewesenen Entschluss: »Herr Faustini verreist«. So nannte Hermann den ersten Auftritt seines Antihelden im Jahr 2006.
Hermann wurde 1961 in Bregenz geboren, studierte in Wien und lebte in Berlin und Paris, in der Provence und in Tokio. Sein Herr Faustini, der in der Nähe von Bregenz lebt, empfindet schon den Besuch der Vorarlberger Landeshauptstadt als kleines Abenteuer. Seinen Entschluss, sein kontemplatives gegen ein draufgängerisches Leben zu tauschen, besiegelt Faustini zunächst mit einem Besuch beim Friseur.
Faustini macht Dinge, die er sonst nie machen würde. Er spricht fremde Menschen an, er verlässt sein Schneckenhaus. Und siehe da: Die Welt scheint ihm offenzustehen. Und so tritt er tatsächlich eine Reise an, nach Ascona in der Schweiz, wo seine Schwester einen runden Geburtstag feiert. Alles scheint für Herrn Faustini auf einmal möglich, doch er kneift. Obwohl er nichts zu verlieren hat, riskiert er schließlich doch nichts.
Sympathie für geplagte Figuren
Hermann macht sich in keiner Sekunde über seine Hauptfigur lustig, im Gegenteil: »Ich möchte eine Figur in ihrem Lebensatem spürbar machen und den Weg dieser Figur verfolgen – und sie womöglich retten«, so Hermann im ›Archive des Schreibens‹-Gespräch. Dem tollpatschigen Herrn Faustini hat er noch mehrere Auftritte beschert: »Herr Faustini und der Mann im Hund« (2008), »Die Augenblicke des Herrn Faustini« (2011) , »Herr Faustini bekommt Besuch« (2016) und »Herr Faustini bleibt zu Hause« (2021)
Auch wenn der studierte Philosoph von sich sagt, dass er den Untergang nicht feiern möchte und dass es ihn nicht interessiere, sein Romanpersonal zugrunde gehen zu lassen, konfrontiert er es doch oft mit existentiellen Krisen. Etwa Richard Marten in »Mit dir ohne dich« (2010). Marten ist der Jungautor der Saison, gefeierter Liebling der Feuilletons und umschwärmter Gast der Talkshows. Doch seit geraumer Zeit gelingt ihm keine Zeile mehr. Der Shootingstar in der Sinnkrise sitzt Tag für Tag vor dem weißen Blatt Papier wird und von seiner Frau verlassen.
Während jedoch Richard selbst rein gar nichts Verwertbares einfallen will, erhält er plötzlich anonyme Briefe, in denen eine Unbekannte seiner literarischen Fantasie mit der Schilderung ihres abenteuerlichen Sexlebens auf die Sprünge helfen möchte.
Widerstrebend lässt sich der Autor auf das Spiel ein, das jedoch immer unheimlicher wird: Seine Geschichtenlieferantin scheint in erschreckender Detailgenauigkeit über ihn Bescheid zu wissen. Richard ahnt, dass er in Begriff ist, einen Teufelspakt einzugehen, und zieht sein aus den geheimnisvollen Briefen kompiliertes Manuskript zurück. Die Muse wandelt sich zur Stalkerin. Immer häufiger werden Polizei und Rettung von anonymen Anrufern zu Einsätzen in seine Wohnung gerufen.
Neubeginn statt Untergang
Doch Hermann ist am Überwinden von Krisen interessiert: Überstürzt verlässt Richard die unter einer Hitzewelle leidende Stadt und fliegt seiner Frau, die ihre frühere Arbeit als Stewardess wieder aufgenommen hat, nach Japan nach. Rasch ändert sich der Ton des Buches. Richard kann sich von der Blockade befreien, fasst neuen Mut und stellt sich dem Leben und Schreiben.
Von einem Horror, der plötzlich ins Leben einbricht, handelt auch »Abschied ohne Ende« (2012). Ein Vater, der Ich-Erzähler, findet eines morgens seinen Sohn, der mit harmloser Grippe schlafen gegangen war, tot im Bett. Ab diesem Augenblick steht die Zeit still. Ein Blitz reißt den Vater aus seinem bisherigen Leben. »Ich war nicht da, ich war nicht mehr. Ich war schon fortgerast hinauf mit einem grausamen Lichtstrahl, der mich aus den Schuhen nahm, hinauf in ein hohes atemloses ichloses Stockwerk. Es schrie mich weg vom Bett meines toten Fabius und hinauf ins Leere.« Er bricht zusammen und fleht vergeblich um »Unwirklichkeit«.
Neubeginn nicht ausgeschlossen
Ein Freund und die schon lange vom Erzähler getrennt lebende Mutter des toten 17-Jährigen stehen dem Vater bei, doch sein Herz scheint buchstäblich gebrochen. Hermann weicht hier mit größter Sensibilität und sprachlicher Klarheit allen Gefahren von Kitsch und Pathos aus. »Insel im Sommer« (2022) wirkt wie die Fortsetzung – und schildert zaghafte, von anhaltender Trauer geprägte, aber auch durchaus romantische Versuche der Hauptfigur, ins Leben zurückzukehren.
»Ich weiß nicht genau, wie viele Jahre ich in der Hölle war«, heißt es schon auf der ersten Seite. »Meine Frau hatte mich längst verlassen, meine Freunde hatten nach und nach die Geduld mit mir verloren. Ich hörte Sätze wie: ›Ja, es ist schlimm, dir ist das Schlimmste passiert, aber du musst kämpfen, bitte kämpfe!‹« Der Ich-Erzähler kämpft nicht, aber er beginnt, Dinge zuzulassen. Und seine melancholische Aura scheint manche Frauen anzuziehen. Er begegnet Blicken, lässt sich auf der Straße ansprechen, beginnt eine Affäre, hat aber nicht den Mut, sich ganz auf die verheiratete Frau einzulassen, die sich von ihm ein Kind wünschen würde. Und bald ist die Chance auf ein neues Leben wieder dahin.
Irgendwann reist der Erzähler, ein Seelenverwandter des Herrn Faustini, nach Südfrankreich, in die Nähe von Aix, dorthin, wo er mit seinem Sohn einst immer wieder glückliche Ferientage verbracht hatte. Von Freunden wird er liebevoll aufgenommen. Und er begegnet einem kleinen, aufgeweckten Mädchen, das er sofort ins Herz schließt, und der Mutter des Kindes, einer Bildhauerin, die ebenfalls vom Leben gezeichnet ist. Schon bald fühlen sich diese drei Menschen eng miteinander verbunden. Ein Neubeginn scheint möglich.
Video: Imogena Doderer (Gestaltung), Bernhard Höfer (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: flob, Agenturen, für ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)
Wolfgang Hermanns ›Archive des Schreibens‹-Playlist
AXK: »Look Up«
René Aubry: »Prima Donna«
Nick Cave & The Bad Seeds: »Into My Arms« (Remastered Edition)
Alice Phoebe Lou: »Ocean«
René Aubry: »Sirtaki à Helsinki«
Voodoo Jürgens: »Gitti«