Dunkler Sog eines Sprachspielers
Erstausstrahlung im ORF: 22. November 2022
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 28. November 2022
Sprache zu hinterfragen und herauszufordern ist Michael Stavaričs Metier: Der österreichisch-tschechische Autor – oder tschechisch-österreichische, wie ihn die Tschechen umgekehrt gerne nennen – brilliert in seinen Romanen mit großer Sprachgewandtheit und düsterem Sog. Daneben schreibt er Kinderbücher, in denen sich Getier wie Blutegel, Krake und Eichelhäher tummelt.
»Ohne diese Mehrsprachigkeit bin ich mir gar nicht sicher, wie weit ich mich mit Literatur auf diese Art und Weise auseinandergesetzt hätte«, sagt Stavarič im ›Archive des Schreibens‹-Gespräch. Stavarič, 1972 geboren, kam als Siebenjähriger aus dem tschechischen Brünn ins Weinviertler Laa an der Thaya, ohne ein einziges Wort Deutsch zu sprechen. Kein Wunder, dass er, wie er sagt, im Aufwachsen durch mehrere »Sprachkrisen« durchmusste – was er retrospektiv aber als fruchtbare Erfahrung sieht.
Seit über 20 Jahren erlaubt ihm das Fehlen gewisser Automatismen und Selbstverständlichkeiten, freier auf die Sprache zuzugehen: »Ich glaube, wenn man mehrsprachig aufwächst, erachtet man Sprache als etwas anderes, als wenn man immer nur eine Sprache zur Verfügung hat«, so der Autor, der sich als lustvoller Sprachspieler eindeutig in der Tradition der österreichischen Avantgarde versteht. Stavarič habe »deutschsprachige Gegenwartsprosa auf sprachlich originelle Weise bereichert«, hieß es 2012 auch in der Jurybegründung des renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preises für deutschsprachige Literatur nicht muttersprachlicher Autoren.

Plot-Twists und düsterer Existenzialismus
Mit 28 debütierte Stavarič mit »Flügellos«, einem Lyrikband, sechs Jahre später veröffentlichte er mit »stillborn« seinen ersten Roman. Sieben weitere folgten, zuletzt »Fremdes Licht« (2020), der mit düsterem Existenzialismus und vielen Plot-Twists zwei typische Stavarič-Motive verband. Angesiedelt im 24. Jahrhundert in einem postapokalyptischen Setting, dreht sich die Geschichte zunächst um die Genforscherin Elaine. Als einzige Überlebende einer intergalaktischen Rettungsmission ist sie im ewigen Eis eines unbekannten Planeten gestrandet.
In der – variantenreich buchstäblich fühlbar gemachten – eisigen Kälte trösten Elaine die Erinnerungen an ihren Großvater aus Grönland. Und in diese nördlichen Gefilde biegt dann »Fremdes Licht« im zweiten Teil ab, wo die Mission eines (tatsächlich existenten) norwegischen Polarforschers am Ende des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt steht. Ausführlich schildert Stavarič die von ihm erforschten Mythen, Sprachwelten und Schriftformen der Inuit – womit im Setting zwischen Exoplanetenmission und Kältedelirium für gewisse Bodenhaftung gesorgt ist. Ein Krimiplot im dritten Teil führt dann noch ins Chicago von 1893.

Stavarič polarisiert
Bei der Beschreibung von »Fremdes Licht« merkt man schon: Stavaričs Bücher lassen sich schwer in wenige Worte fassen. Konfektionierte Plotstrukturen interessieren ihn nicht, was ihn mit seinem großen Landsmann Milan Kundera verbindet. Und so ging es auch im Vorgängerroman »Gotland« (2017) um einen Autor aus streng katholischem Elternhaus, der mit einem aberwitzig-genialen 70.000 Seiten starken Buchkonstrukt seine Leserinnen tötet, reichlich Andeutungen und viel Abgründiges, das zwischen den Zeilen lauerte. Konnte man dem Gelesenen da überhaupt trauen?
Stavarič jedenfalls polarisiert. Die einen halten seine Bücher für »unlesbar« (Neue Zürcher Zeitung), das »Feuerwerk an Andeutungen« lasse Leserinnen und Leser »ratlos« zurück, kritisierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa 2011. Andere schwärmen wiederum von einem »phantasmagorischen Erzähl- und Leseabenteuer« und einer seinesgleichen suchenden Bereitschaft, bei jedem Buch ein »neues erzählerisches Experiment zu wagen« (Deutschlandfunkkultur).
Und kaum einer bestreitet Stavaričs Talent für Abwegiges und Groteskes. Viel Lob in dieser Hinsicht erntete »Königreich der Schatten« (2013) über eine junge Wienerin, die in Leipzig das Fleischerhandwerk erlernt und sich in den Metzger verliebt, der ihren Großvater im Zweiten Weltkrieg tötete – eine Wahl zur »Miss Fleisch« inklusive.

Literatur muss »Beat haben«
In dem »bösen Märchen« schreibe Stavarič die »Tradition des Skurrilen von Karel Capek bis Bohumil Hrabal fort, spielerisch, hochmusikalisch (allein die Musik der geborgten tschechischen Wörter!) und komisch«, so Daniela Strigl dazu im Standard. Mit der Arbeit eines Musikers vergleicht auch Stavarič die Schriftstellerei: »Einen Rhythmus, einen Duktus, eine Melodie, all das sind Dinge, die in der Literatur wichtig sind. Autorinnen und Autoren müssen einen Beat haben«, so Stavarič im ›Archive des Schreibens‹-Gespräch.
Den Beat lässt der Autor, der übrigens lange Zeit als staatlich geprüfter Inlineskate-Lehrer auf der Sportuniversität Wien lehrte, auch in zahlreichen – und zahlreich ausgezeichneten – Kinder- und Jugendbüchern tönen. Zuletzt erschien »Piepmatz macht Wald aus euch« über einen kecken Eichelhäher (mit eindeutig norddeutsch gefärbtem Eichelhäherisch), der nicht versteht, warum die »Menschwesigen« trotz ihrer »Kopflistigkeit« die Natur so kaputt machen.
Auf Krake folgt Qualle
Zuvor veröffentlichte Stavarič das an Jugendliche gerichtete »Faszination Krake«, das von Michele Ganser geheimnisvoll-stimmig illustriert wurde. Dass Stavarič deklarierter Tierliebhaber ist, ist diesen Büchern unbedingt anzumerken. Besondere Liebe gilt dem Getier unter der Wasseroberfläche: 2023 erscheint »Faszination Qualle«, der Fortsetzungsband zum Kraken.
Video: Sandra Krieger (Gestaltung), Marcus Walter (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Paula Pfoser/ ORF Topos, Bildredaktion: Zita Klimek/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)
Links
Michael Stavarič bei Luchterhand
Michael Stavarič bei Leykam
Michael Stavarič bei C.H. Beck
Michael Stavarič bei Residenz
Michael Stavarič bei Czernin
Michael Stavaričs ›Archive des Schreibens‹-Playlist
Dire Straits: »Brothers In Arms«
The Doors: »Riders On The Storm«
The Dead South: »In Hell I’ll Be In Good Company«
Orchestre symphonique de l’opera nationale / Offenbach: »Les Oiseaux dans la charmille«
Billie Eilish: »Everybody Dies«
The Pixies: »Where Is My Mind«
Pippilotti Rist: »Wicked Game«