›Archive des Schreibens‹, Folge 23

Erfolgsformat mit »Mutter« Medusa

Erstausstrahlung im ORF: 30. September 2024
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 6. Oktober 2024

20 Jahre ist es her, dass Poetry Slams nach Wien kamen. Inzwischen sind die Spoken-Word-Events längst eine Erfolgsgeschichte. Als »Mutter« der heimischen Szene gilt Mieze Medusa alias Doris Mitterbacher. »Wir trennen so stark zwischen Hochkultur und populärer Kunst«, so Medusa im ›Archive des Schreibens‹-Porträt. Was sie will: Lust aufs Mitmachen machen, unabhängig von Sprache und Herkunft.

Vor zehn Jahren stand die Szene sozusagen unter Schock. Die deutsche Poetry-Slammerin Julia Engelmann hatte in einem Bielefelder Unihörsaal ihren Slam »Eines Tages, Baby« vorgetragen und mit den Anti-Lethargie-Zeilen »Eines Tages, Baby, werden wir alt sein«, »Lass uns Dopamin vergeuden« und »Mut ist auch bloß ein Anagramm von Glück« offenbar den Nerv einer Generation getroffen. Millionen klickten daraufhin auf YouTube das Lied, und auch in Wien standen plötzlich – von der Deutschlehrerin mit ihrer Schulklasse bis zur studentischen Szene – Schlangen vor dem Wiener Rhiz, meterweit den Gürtel entlang. Auf einen so großen Andrang war niemand vorbereitet gewesen.

Viel hat sich inzwischen verändert, die Slam-Community ist breit und groß geworden: »Ich kann mich an das Gefühl erinnern, wow, wenn wir aufhören, geht es weiter«, erzählt Medusa über den Eindruck, der sich vor einigen Jahren einstellte. In Österreich hat die 1975 geborene Autorin und Musikerin dahingehend viel Aufbauarbeit geleistet, es sei ihr »größter Erfolg«, wie sie sagt.

»Miniklein« seien die Anfänge in Wien gewesen, mit dem heute dienstältesten Slam »textstrom«, der im Hinterzimmer im Café Europa erstmals vor 30 Freundinnen und Freunden über die Bühne ging. Medusa war damals schon eine Zeitlang selbst Slammerin gewesen und mit dem Zug weite Strecken gefahren, bis sie, gemeinsam mit Ehemann Markus Köhle, ihre eigene Szene aus dem Boden stampfte.

Nebensache Slam-Gewinn

Was damals wie heute die Slam-Community eint, ist die Leidenschaft für das gesprochene Wort. Auch eine gewisse Affinität zu Reim und Rhythmus gibt es – die ist aber nicht Pflicht. Tatsächliche Regeln gibt es einige wenige: Nur selbst geschriebene Texte dürfen vorgetragen werden. Eine Zeitbegrenzung ist auf etwa fünf Minuten festgesetzt, Singen und Kostüme sind nicht gestattet, es gilt: »Come as you are«.

Und: »Poetry ist ein Wettlesen um die Gunst des Publikums«, erklärt Medusa die Grundidee. Ob ein Text gelungen ist, entscheiden sechs Freiwillige aus dem Publikum per gezückter Tafel, manchmal zählt auch der Applaus des gesamten Publikums. Wobei es das „größte Missverständnis“ sei, »dass es ums Gewinnen geht«. Im »schwierigen« Barsetting früher im Rhiz, wo hinten an der Theke immer geredet wurde, konnte man aber bemerken, was funktioniere und was nicht: »Wenn du das ganze Lokal ruhig gebracht hast, dann ist da was dran mit deinem Text.«

Gefüllte Hörsäle und Theater

Der Peak der Poetry Slams in Österreich war im Jahr 2017, ein Teil des Publikums hat sich mittlerweile zur boomenden Stand-up-Comedy und anderen Formaten verabschiedet. Groß ist die Slam-Szene aber immer noch. Circa einen Slam pro Tag gibt es hierzulande, durchschnittlich 300 Besucherinnen und Besucher kommen zum Hörsaal-Slam in Graz, circa 150 sollen es in Wien sein, wo es mehr Konkurrenz im Veranstaltungsangebot gibt. Sogar auf noch mehr Zuspruch stoßen die ÖSlam-Meisterschaften, die heuer unter anderem im Schauspielhaus Graz ausgetragen werden.

Medusa selbst sieht den leichten Publikumsrückgang in Österreich sogar positiv, erlaubt er doch ein stärkeres Bekenntnis zur Diversität auch abseits der oft politischen Texte: Nicht mehr nur »Bobos« drängen auf die Bühne. Mit der Brunnenpassage in Wien Ottakring gebe es seit einigen Jahren einen idealen Ort, um Mehrsprachigkeit und verschiedene Erstsprachen auf der Bühne positiv zu besetzen. »Wir haben einen so verkorksten Zugang zu Sprachen«, meint Medusa, die diesbezüglich viel Potenzial brachliegen sieht.

»Wörter waren schon immer da in meinem Kopf«

Geboren wurde Medusa 1975 im deutschen Schwetzingen, aufgewachsen ist sie in Gallneukirchen bei Linz. »Wörter waren immer da und immer viele in meinem Kopf«, so die Autorin, die die erste Künstlerin ihrer Familie ist und für mehr Niederschwelligkeit in der Kunst eintritt. In der Gesellschaft würde »so abgehoben über Kunst erzählt werden«, so die Slam-Koryphäe, dabei sei »alles literaturtauglich, und alles hat Platz. Ich habe sehr erwachsen werden müssen, um das herauszufinden.«

Ein erstes künstlerisches Rufzeichen gab Medusa 2002 als Gewinnerin des FM4-Wortlaut-Literaturwettbewerbs, 2004 folgte der erste Roman »Freischnorcheln«, in dem sich eine selbstständige Grafikerin durch das prekäre Leben wurtschelt. Kritikerinnen und Kritiker lobten damals eine »kurzweilige« Prosa mit »wortverliebter Rhythmik«, die auch in den weiteren Romanen zur stilistisch prägenden Komponente wurde.

Feminismus und Gesellschaftpolitik

2021 erschien »Du bist dran« über drei Außenseiter unterschiedlicher Generationen und Milieus, 2022 der feministische Roman »Was über Frauen geredet wird«, in dem fünf Protagonistinnen das Recht einfordern, auf das, »was über sie geredet wird, zu pfeifen«.

»Ich schreibe realistische Romane, in dem Sinn, dass ich von einer Welt erzähle, die ich mit den Leuten teile, die die Bücher lesen«, meint die Autorin zu ihren immer auch gesellschaftspolitisch grundierten Texten. Ein neues Buchprojekt rund um das Thema Geld soll 2025 erscheinen, das unter anderem die Frage stellt, »wer überhaupt Kunst machen darf«.

Liebe zum Rap

Die Musikalität von Medusas Sprache ist dabei nicht nur ihren Poetry-Wurzeln geschuldet, sondern auch ihrer Liebe zum Rap: 2007 gewann sie gemeinsam mit tenderboy den FM4-Protestsongcontest mit dem Hip-Hop-Track »Nicht meine Revolution«. Das Bandprojekt existiert noch immer, die letzte Platte hat aber schon einige Jahre auf dem Buckel.

Kollektivität gibt es im Leben der umtriebigen Künstlerin auch anderswo: Gemeinsam mit ihrer Freundin Yasmo slammt sie unter dem Namen »MYLF – mothers you’d like to flow with«. Die Meisterschaften des ÖSlams im Oktober werden schon länger von der nächsten Generation organisiert, das Poetry-Großmeisterinnenduo lässt sich den dortigen Auftritt aber nicht nehmen. »Eines Tages, Baby, werden wir alt sein« – die im Slam-Hit verpackte Botschaft des »Nicht-Aufschiebens-sondern-einfach-Machens« hat Medusa längst schon beherzigt.

Video: Sandra Krieger (Gestaltung), Bernhard Höfer (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Paula Pfoser/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Oktober 2024)