›Archive des Schreibens‹, Folge 25

Literatur zwischen Kunstbetrieb und Eskalation

Erstausstrahlung im ORF: 2. Dezember 2024
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 20. Dezember 2024

 

Als »Spezialist für Ausnahmesituationen und groteske Lebenslagen« wurde der 1966 geborene Wiener Autor Hanno Millesi einmal bezeichnet. Fakt ist: Über was er schreibt, das nimmt er ernst und die Verwicklungen in seinen Romanen sind ein Resultat dieser Konsequenz. Ob Museumswärter am Rande der Eskalation, gehörlos gewordene Geräuschemacher oder Forschungsreisende in den eigenen vier Wänden – er schreibt über Menschen, die den Ebenen der Realität gegenüber offen sind.

Millesi ist jemand, der sich seine künstlerische Form sehr bewusst gewählt hat. »Literatur, wenn dann diejenige, bei der ich am ehesten den Eindruck hatte, damit etwas Sinnvolles machen zu können«, so der Autor im »Archive des Schreibens«-Interview. Dabei stand vor dem Schreiben ein Studium der Kunstgeschichte und von 1994 bis 1999 die Arbeit als persönlicher Assistent des Aktionskünstlers Hermann Nitsch, bis heute fertigt Millesi Collagen an.

Seine Tätigkeit im Museumsbetrieb hat jedenfalls direkte Einflüsse auf seine Texte gehabt: »Mich interessieren grundsätzlich Museen als Orte, in denen eine sehr intensive Beschäftigung mit Kunst stattfinden kann – abgekoppelt vom täglichen Leben.« Ein Museum, in dem der abgekoppelte Raum der Kunsterfahrung mit dem alltäglichen Leben kollidiert, ist etwa Handlungsort seines frühen Romans »Im Museum der Augenblicke« (2003). Von »zwei Welten, zwei parallelen Universen«, die in einem Museum existieren, ist dort die Rede.

Die zwei Welten des Museums

Die eine Welt, das ist jene der Säle, Korridore und Schauräume, die andere, das ist jene Welt der sozialen Beziehungen innerhalb des Museums. Dem Aufseher Arthur Werdenau kommen diese Welten durcheinander. Er lebt in einer Art Solidargemeinschaft mit einer von den Kollegen verachteten Installation, identifiziert sich mehr mit der verschmähten Kunst denn mit dem restlichen Betrieb – bis eine drohende Kündigung Eskalationen bei ihm auslöst.

Auch in »Die vier Weltteile« (2018) zieht es Millesi als Erzähler wieder ins Museum, auch in diesem Roman kollidieren soziale Gefüge im Schauraum der Kunst: Während einem Familienausflug in die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums findet dort im Foyer ein Attentat statt. Gemeinsam mit den Museumsbediensteten versuchen die Erwachsenen Normalität vorzutäuschen, in dem sie einen Streifzug durch die Kunstgeschichte inszenieren. Doch mit ihren vorwitzigen Fragen zu den Heiligen und Helden, Märtyrern und Ungeheuern, machen sie es den Kindern nicht gerade leicht.

Expeditionen in Raum und Klang

Das Abstruse, das Abgründige, es entwickelt sich bei Millesi immer aus einer alltäglichen Situation heraus – und bleibt immerzu ein Teil der normalen Erfahrung der von ihm erzählten Welt. »Bei mir kann alles eine Rolle spielen, was im Alltag vorkommt«, so Millesi. »Es kann auch ein Gespenst vorkommen, obwohl ich keine Gespenstergeschichten schreibe. Aber ich schreibe Geschichten über Menschen, die den Dingen gegenüber offen sind«.

So kann eine groteske Lebenslage auch daraus erwachsen, dass jemand, wie der Protagonist in »Der Schmetterlingstrieb« (2016), versucht sich die Langeweile zu vertreiben und sich auf Expedition durch die eigene Wohnung begibt: ein Winterspaziergang bei geöffneten Fenstern, eine Radtour von der Küche ins Schlafzimmer, ein paar Stunden im Schrank bei den Winterkleidern oder Detektivarbeit vorm Bücherregal.

Auch Klangexpeditionen gehören zum Programm: In »Der Charme der langen Wege« (2021) verliert Lambert, ein ehemals erfolgreicher Geräuschemacher für Film und Fernsehen, durch einen Golfballtreffer am Kopf das Gehör. Dieser moderne und aberwitzige Nachfolger Beethovens – von dem man erfährt, dass Flip-Flops ideal Raumschiffantriebe und zerplatzende Weintrauben Gewehrschüsse vertonen können – erkundet seine persönliche Geschichte und die Stadt Z., die wie ein verkommendes Wien wirkt.

Video: Sophie Weilandt (Gestaltung), Rosanna Stark (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Florian Baranyi 

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