›Archive des Schreibens‹, Folge 3

Der Konter auf das Schweigen

Erstausstrahlung im ORF: 21. November 2022
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 28. November 2022

 

Wenn schon »jedes Kind weiß, dass im Schweigen die größten Dinge hausen«, dann muss im Land des Schweigens Einiges los sein. Die Autorin Anna Baar ist jedenfalls besessen davon, der Welt hinter dem Schweigen einen Namen zu geben, ja, dieser Welt in ihrer Widersprüchlichkeit erst zum Sprechen zu verhelfen. Ihr Roman »Nil« war zuletzt einer der ganz großen Würfe in der heimischen Gegenwartsliteratur.

Sollte es mit dem Ende der 1980er Jahre und mit dem Ableben von Thomas Bernhard so etwas wie einen Systembruch in der österreichischen Gegenwartsliteratur gegeben haben, dann ist das möglicherweise in einer Überwindung der eng geführten Anklage über Österreich zu sehen.

Sosehr die literarischen und gesellschaftspolitischen Welten einer Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz, eines Peter Handke oder eben vor allem eines Bernhard vom Antrieb des Benennens gekennzeichnet sind, so las sich die österreichische Form der Namensgebung und Anklage einerseits immer wie großes Welttheater und war gerade bei den männlichen Vertretern von einer großen Form der Selbststilisierung getragen. Zugleich war die Abrechnung immer vom Charakter des antidialektischen Denkens geprägt. Es war das Moment des Reinschlagens gefragt, nicht das der Gegenüberstellungen oder der Herausarbeitung. Die Wahrheit hauste doch eindeutig auf einer Seite. Wozu sie also noch bis zum Kern herausschälen?

Neue Selbstverortungen nach 1990

In der Schreibgeneration danach, die auch von ganz anderen Zeiterfahrungen geprägt ist, war und ist das nicht mehr so. Die Benennung schält sich mehr als Prozess heraus, als eine Erarbeitung des Durchbrechens dieses Schweigens, das eben nicht frei von der eigenen Beteiligung ist. »Ich habe nicht aufgezeigt, als der Klassenvorstand anlässlich der bevorstehenden Feiern zum siebzigsten Jahrestag der Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit der nach 1918 von Jugoslawien beanspruchten, mehrheitlich von Slowenen besiedelten Gebiete in Südkärnten fragte, wer von uns zu Hause die andere Sprache spreche«, heißt es zum Beginn ihres jüngsten Erzählbandes »Divan mit Schonbezug«.

Wer denn die im Land »sonstwarum Heimatberechtigten« seien, ist in Baars Literatur nicht ausgemacht. Doch die Setzungen, Praktiken und Gewohnheiten im Land suggerieren, dass doch alles geklärt sei. Dass dem nicht so ist, weiß das Land durch einen intensiv geführten Diskurs seit Mitte der 1980er Jahre. Wichtig für Baar ist bei all dieser Aufdeckungsarbeit, die eigene Position zu hinterfragen. »Das Fremdsein steht mir gut«, sagt sie über sich in der Reihe ›Die Archive des Schreibens‹ – und meint, dass sie genau in diesem Fremdsein »heimisch geworden« sei, den Blick und die Benennung gerade aus ihrer eigenen Perspektive zur Gewohnheit gemacht habe.

Eine Perspektive auf die Heimat aus der Welt

Die neue Generation betreibt den Prozess der Hinterfragung und Benennung auch aus einem internationalen Geist. Und der ist zunächst ein gesellschaftlicher, gar nicht primär ein ästhetischer. Da, wo sich die Menschen zwischen Teheran, Zagreb oder Wien in internationalen Gefilden mit einer viel größeren Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit bewegen, wird die Frage der Herkunft einerseits nie eindimensional lösbar.

 

Die Perspektivierung der Welt schließt jede Schwarz-Weiß-Schablonisierung aus. Schon dieser Zugang macht vor allen bei ästhetischen Fragen den Unterschied. Wenn man dann, wie Baar, in der Kultur des Romans der Moderne offensichtlich tiefer eingetaucht ist und dessen ganze Dynamik und Energie zu nutzen weiß, kommt eine Literatur heraus, die in vielem leichtfüßiger als die Texte der Vorgängergeneration ist. Und, so zeigt es der eigentlich unterprämierte Roman »Nil«: Mit der Tradition ganz großer Werke eines Faulkner oder Musil darf man getrost, bis zur Haarnadel einer Agathe, die zu Boden fällt, ganz spielerisch umgehen.

Bis tief in die Kindheit wird bei Baar vernommen – und alles mitgeschleppt, was uns seitdem als Geist unseres Heranwachsens verfolgt. »Ich werde tun, was man von mir verlangt, festhalten, was ich festhalten kann, vom Verlust all dessen erzählen, was ich gestern noch glaubte zu sein – und vom Kind, das ich war, als die Verwandlung begann«, konstruiert sie ein romantypisches Ich gleich zu Beginn ihres Romans »Nil«. Dem Ich kommen bei ihr die Grenzen abhanden, weswegen es sich schon ein Double im Text suchen muss. Und das kann wieder, wie in ihrem letzten Band, auch ein Taxifahrer in Teheran sein, hinter dem der, ebenso konstruierte, »normale Mensch« lauert.

»Da ist dieser ewige Zweite, einer, der alle Bekannten zu einem einzigen Wesen vereint, jeder und niemand zugleich, Inbild eines Vertrauten, den man in Wahrheit nicht kennt. Einen solchen wird man nur los, indem man von seinem Verschwinden erzählt, als sei man dabei gewesen.« So steht es in »Nil«, diesem Text, der Roman und poetologisches Bekenntnis ist. In ihrem Erkennen macht Baar ihre Leserinnen und Leser zu Komplizinnen und Mitläufern, sobald diese über ihre Sprünge, Metaphern und Verdichtungshürden geklettert sind.

Baar verlangt viel. Zugleich ist ihr Roman so gebaut wie ein moderner Popsong. Für die ›Archive des Schreibens‹ hat sie die Musik zum Porträt ausgesucht, auch das Intro-Riff der Stones zum Song »Anybody seen my baby«. Thema und Groove müssen bei Baar zusammengehen, in der Musik wie beim Schreiben. Das stattet das komplizierte Denken dann wieder mit dem entscheidenden Moment des Sogs aus. »Am Anfang weiß man nicht, dass es ein Anfang ist, dass etwas beginnt«, so Baar. Und doch ist man dann tief drinnen in den Texten – und will sich am Ende ungern rausreißen lassen.

Video: Imogena Doderer (Gestaltung), Bernhard Höfer (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Gerald Heidegger/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)