›Archive des Schreibens‹, Folge 9

Spurensuche nach dem Verdrängten

Erstausstrahlung im ORF: 12. Dezember 2022
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 12. Dezember 2022

 

Seit ihrem wuchtigen Debüt »Die Züchtigung« verfolgt Anna Mitgutsch konsequent die Aufarbeitung der unausgesprochenen Traumata Nachkriegsösterreichs. Dass sie mit ihrem Lebensweg, in dem sie viele Rollen gleichzeitig ausfüllen wollte, oft »zwischen den Stühlen« zu sitzen kam, erzählt sie im ORF-Gespräch.

Seit ihrem Debütroman »Die Züchtigung« (1979) kreist Mitgutschs Schreiben um die NS-Vergangenheit, die die 1948 in Linz geborene Autorin schon früh als ein Lebensthema umtrieb. Im Roman, einem Abarbeiten an ihrer Mutter, die als Bauerntochter aufwuchs und aus der Enge dieses Milieus in die Stadt heiratete, scheitert die Protagonistin Maria daran, das über Generationen weitervererbte Korsett aus sozialer Kontrolle und Unfreiheit abzulegen.

Dass »da etwas war«, spürte sie als Jugendliche bei der Mutter schon früh, wie sie im ORF-Interview sagt. Ein nicht ausgesprochenes Trauma, das nicht nur in der Familie, sondern in der gesamten österreichischen Nachkriegsgesellschaft herrschte. Das Interesse für die Ausgestoßenen und Schwachen, jene Lebensläufe, an denen Politik sich durch Zwangsmaßnahmen offenbart, begleitet Mitgutsch seit ihrer frühen Lektüre von Anne Franks Tagebuch, dem einzigen Buch, das sie je gestohlen hat, wie sie im Gespräch zugibt. Ihre Beschäftigung mit der Shoah hat sie dem Judentum nahegebracht, zu dem sie konvertierte. Inzwischen ist sie Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Linz.

Auf der Suche nach den »infamen Menschen«

Damit schreibt sich Mitgutsch in eine Tradition ein, die der Philosoph Michel Foucault in seinem Büchlein »Das Leben der infamen Menschen« umrissen hat, einer Literatur, die jene ausleuchtet, die normalerweise nur sichtbar werden, wenn sie mit den Mächtigen kollidieren: etwa als Straftäter oder als Opfer: »Für mich waren immer die Schwächeren diejenigen, für die ich denken und kämpfen und arbeiten muss und schauen muss, dass sie auch zum Zug kommen«, so Mitgutsch.

Mitgutsch selbst hat für sich einen Lebensweg verfolgt, der nach Weite und Freiheit suchte: Nach dem Studium der Anglistik und Germanistik und ihrer schriftstellerischen Arbeit pendelte sie dreißig Jahre lang zwischen Boston und Linz, wo sie heute wieder ständig lebt. In der Rückschau reflektiert sie über ihre vielen Rollen: »Ich wollte immer alles. Ich wollte Akademikerin sein, ich wollte Schriftstellerin sein, ich wollte Mutter sein, ich wollte Ehefrau sein, ich wollte viel reisen. Mein Traum war immer, ein New-York-Intellectual zu werden.«

»Zwischen den vielen Stühlen«

Der Nachsatz zu dieser autobiografischen Analyse: »Man sitzt dann zwischen den vielen Stühlen und landet am Boden.« Das mag insbesondere für den deutschsprachigen Literaturmarkt gelten, der Mitgutsch periodisch zu vergessen und wiederzuentdecken scheint.

Zuletzt war das 2016 mit ihrem Roman »Die Annäherung« der Fall: Die politische Familiengeschichte, in der in wechselnden Perspektiven die langsame Annäherung des 96-jährigen Theo mit seiner Tochter Frieda mit der Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit verschaltet wird, würdigte zwar Karl-Markus Gauß in der Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ), eine breitere Beschäftigung der Öffentlichkeit mit dem Roman fand aber nicht statt, obwohl »Die Annäherung« es auf die Shortlist für den österreichischen Buchpreis schaffte.

Die öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Werk der Erinnerung und der Parteinahme für Ausgestoßene, sie wird in eine neue Runde gehen, wenn Mitgutschs aktuelles Projekt [Anm.: »Unzustellbare Briefe«, 2024], eine Art Autobiografie in Briefen, erscheinen wird.

Video: Katja Gasser (Gestaltung), Marcus Walter (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Florian Baranyi/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)