›Archive des Schreibens‹, Folge 11

Literatur als Leistungssport

Erstausstrahlung im ORF: 6. Februar 2023
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 6. Februar 2023

 

Acht Stunden schreiben, danach ein bis zwei Stunden Sport – so lautet die Tagesformel, mit der Raphaela Edelbauer in den letzten sechs Jahren vier hochambitionierte Bücher vorgelegt hat. Inzwischen spielt sie in der ersten Liga der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Edelbauers Schreiben zeugt von Beginn an von großem Selbstbewusstsein. Schließlich hat sie als erste Publikation eine Poetik namens »Entdecker« veröffentlicht, die die Grenzen von Sprache und Naturwissenschaft auslotet.

Damit hat sie von Anfang an markiert, dass sie einem starken Werkbegriff anhängt, wie sie auch im ORF-Gespräch betont: »Im Grunde interessiert mich eine Frage durchwegs, durch alle Werke hindurch, und das ist die Frage, was Sprache ist.«

Systematische Grenzgänge

Was Sprache ist und wo ihre Grenzen liegen, diesen Bereich erkundet die Absolventin der Philosophie und der Sprachkunst seit ihrem ersten Roman »Das flüssige Land« (2019) systematisch.
War es darin die Physikerin Ruth, die als unzuverlässige Erzählerin eine verdichtete Österreich-Parabel zwischen NS-Schuld und Phantastik vermittelte, nahm sich Edelbauer vor, in »Dave« (2021) Künstliche Intelligenz erzählbar zu machen.

In ihrem aktuellen, kürzlich erschienenen Roman »Die Inkommensurablen« (2023), der drei jungen Menschen durch ein Wien am Rande des Ersten Weltkriegs folgt, verschiebt sie den Fokus von Physik und Computerwissenschaften Richtung Massenpsychologie.

Bildungssatt und sprachlich extravagant

Gemeinsam ist ihren Romanen ein großer sprachlicher Aufwand, mit dem sie in Tiefenbohrungen eine Kunstsprache entwickelt, die sich vor historischen und zeitgenössischen Vorbildern der österreichischen Literatur von Robert Musil über Alfred Kubin bis hin zu Elfriede Jelinek verbeugt, ohne den einen oder die andere dabei zu kopieren.

Zwischen sprachlicher Extravaganz und bildungssattem Recherchehintergrund – findet man in den »Inkommensurablen« doch Arthur-Schnitzler-Anleihen, psychoanalytische Diskurse und Schönberg-Exegesen – verlässt Edelbauer aber nie die Lust am literarischen Spiel.

Leistungssport und Bezugssysteme

Diese lebt sie auch mit der Pataphysischen Gesellschaft Wien aus, die sie mitbegründet hat. Die Pataphysik, die Wissenschaft von den imaginären Lösungen, hat selbst ein literarisches Bezugssystem – wurde sie doch vom französischen Autor Alfred Jarry ersonnen.

Neben Literatur, Philosophie und Naturwissenschaften kennt ihr Schreiben aber noch weitere Einflüsse, allen voran die digitalen Welten von Computerspielen, denen ja »selbst eine eigene Form von Weltwahrnehmung zugrunde liegt«, so Edelbauer.

Ohnehin bleibt als Ausgleich für das als Leistungssport betriebene, tägliche Schreiben das körperliche Training, denn: »Für mich ist der Körper die Grundlage unseres Lebens. Ich glaube, dass wir zunächst leibliche Geschöpfe sind und, dass alle unsere Geisteskräfte davon abhängen.«

Video: Alice Pfitzner (Gestaltung), Rosanna Stark (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Florian Baranyi/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)