›Archive des Schreibens‹, Folge 12

Thomas Stangl und das Leuchten des Textes

Erstausstrahlung im ORF: 18. Februar 2023
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 18. Februar 2023

 

Im großen und immer breiter werdenden Kapitel der österreichischen Gegenwart nimmt der Autor Thomas Stangl eine ganz besondere Stellung ein. Das taktile Begreifen der Welt aus den Möglichkeiten und auch Ablenkungen des Texts zelebriert er am radikalsten. Und schließt hier eigentlich in der »Stunde null« der übersehenen Moderne nach 1945 im Land an. Stangls Texte eröffnen ganz neue Welten – und nicht ohne Zufall leuchtet sein letztes Buch auch in der Nacht.

Wenn es so etwas wie eine »Stunde null« der Moderne und des Radikal-Zeitgenössischen nach 1945 in Österreich gibt, dann beginnt diese Stunde für die Literatur im Land im September 1945 mit dem Text »Das vierte Tor« im Wiener Kurier, den die bis dahin unbekannte, junge Autorin Ilse Aichinger verfasst hat. Geschichte, Erleben und Stimmen, die von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berichten, schieben sich als Texttektonik in den Erzählraum. Vollkommen neue Perspektiven gehen auf, und es scheint, dass dieser radikale Ansatz, die Mikroeinheit einer Erzählung und das Gesamtgefüge eines Texts zusammenzubauen, bis heute trotz Ingeborg Bachmann und vielen anderen fast uneingeholt ist.

»Ich trete aus mir heraus und betrachte euch, so als gehörtet ihr zusammen, wärt Teil ein und derselben Welt.«

Thomas Stangl, »Quecksilberlicht«

Der 1966 in Wien geborene Autor Thomas Stangl, der nach dem Philosophiestudium und einer intensiven Auseinandersetzung mit der dekonstruktiven Literaturtheorie als Kritiker und Essayist in Erscheinung trat, scheint genau an diesen Ansatzpunkten der Welterfahrung Aichingers nach 1945 wieder anzuknüpfen. Texte ermöglichen eine Neu- und Umperspektivierung der Welt. Und in Stangls letztem Roman, »Quecksilberlicht«, geht die Reise in einer Welt los, die unweit vom »Vierten Tor« der Ilse Aichinger liegt. Aichinger meinte mit dem Vierten Tor den jüdischen Teil des Zentralfriedhofes.

Bei Stangl läuft ein dreizehnjähriges Mädchen in den Erzählraum, der ein Erinnerungsraum ist und eine Topografie, an die sein Publikum, wenn es Wien-Bezug hat, anknüpfen kann, aber nicht muss. Es geht um den Rand der Stadt, hier Simmering, der ausbricht aus der Stadtmaschinerie mit ihren Fleischfabriken hin zu den offenen Flächen der Simmeringer Heide: »Das Mädchen läuft aus dem Haus, verzweifelt mit einem Schrei in der Kehle. Es gibt keine Richtung, nur ihre Verzweiflung, undurchdringlich, fast abstrakt, ich stelle mir vor, diese Verzweiflung hätte sich losgelöst vom Leben, zu dem sie gehört, der Person, der Geschichte und festgesetzt an diesem Ort, in der Luft.«

Die Einzelnen und die kollektiven Erfahrungen

Stangl schickt mit dem dreizehnjährigen Mädchen »seine« Großmutter los, deren Geschichte mit dem frühen Verlust des Vaters für den Erzähler nur über Berichte vorliegt. Greifbar, weil bildlich vorstellbar wird die Geschichte dieser Frau allein, weil sie in einen Raum der Referenzen tritt, an die der Erzähler selbst, aber möglicherweise eben auch sein Publikum anknüpfen kann. Nicht mehr die Erzählung, der Zusammenhang des scheinbar Logischen ergibt bei ihm das erkennbare Bild, sondern die Summe aller zuordenbaren eigenen und kollektiven Erfahrungen. Und nicht zuletzt sind es die erkennbaren Orte, rund um die Stangl die Neuversuche von Geschichts- und Erzählverläufen knüpft.

»Lange Zeit habe ich mich bemüht, nur schriftlich zu existieren«, heißt es zu Stangl in den ›Archiven des Schreibens‹. Texte, so zeigt das Porträt auch, eröffnen Möglichkeiten und geben, so konträr das für jemanden aus der dekonstruktiven Tradition klingen mag, ein Maß an Sicherheit. Seiten sind dann wie Anhaltspunkte. Es ist eine Sicherheit, von der aus wieder neue Optionen, neuen Entdeckungen möglich werden sollen. Und vielleicht steckt im Text dann auch eine Krücke für die nächste Erfahrung. Abgeglichen wird diese Form der Welterzeugung mit dem Schauen, das Stangl fasziniert. Zugleich aber muss der Mensch des Textes dem eigenen Schauen misstrauen oder es durch Versetzungen der Blickachse neu kalibrieren.

Stangl, so zeigt es das Porträt, ist mit dem Sammeln von Eindrücken befasst, die vor allem viel mit Topografien zu tun haben. Dass man dabei Fotos macht, ist Teil eines Sammel-, aber auch Hinterfragungsprozesses. »Wenn man genau sagen wollte, wer man denn in Freiheit wäre, wäre es gar keine Freiheit mehr, weil es ja wieder eine feste Definition ist«, so der Autor.

»An anderen Orten sein, einen Schritt zur Seite getreten sein, schärft den Blick und macht das Schreiben in gewisser Weise erst möglich«, erzählt der Orts- und Perspektivensucher Stangl auch. Genau der Wechsel dieser Perspektiven und die Verschiebungen eines Blicks auf die Wirklichkeit machen den eigenen Reiz seiner Texte aus. Wer sich auf diese Texte einlässt, muss Zeitordnungen und rasche Sinnorientierungen hinter sich lassen und mit auf eine Reise der Entdeckungen gehen wollen.

»Ich versuche, den Ort zu rekonstruieren; was ist das für ein Haus, aus dem das Mädchen (meine Großmutter, an die ich keine Erinnerung habe, dreizehn Jahre alt) läuft? Das hier, unter diesem grauen weiten Himmel, ist jedenfalls Simmering, ›Arsch von Wien‹, der XI. Bezirk, in einer Zeit, die über hundert Jahre zurückliegt. Der Schlachthof ist nah, das Gaswerk, der Zentralviehmarkt, die Gleise der Schlachthausbahn und die Pferdestraßenbahn zum Zentralfriedhof. Dann aber auch Wiesen, tiefer unten, schon nah am Donaukanal, die Heide. Die Straßen sind breit, mit dörflich niedrigen Häusern, dahinter die Rauchfänge der Fabriken, überall Staub, Pferdemist, ein lose gewobenes Netz aus Tagen, Bildern, Gerüchen. Geht sie einen Schritt zu weit, durch den Tunnel einer finsteren Sekunde hindurch, gelangt sie ins Moor, der Gestank bleibt der Gleiche, er folgt ihr, ins Moor, das sich ausbreitet gleich hinter den letzten Häusern von Haworth, kahle blaue Bäume und ein ausgebleichter Himmel, er folgt ihr (während sie langsam ihre Gestalt verliert) in die Bambuswälder und über betäubend grüne Hügel, all das entsteht Schritt für Schritt, Regionen, Vorzeiten und Gegenwarten und ihre hingekritzelten Bewohner!«

Thomas Stangl, »Quecksilberlicht«

Wenn die Handlungsstränge spät zusammenfinden

»Ich versuche von zwei oder mehr unterschiedlichen Ausgangspunkten her zu schreiben und dann langsam zwischen diesen Handlungssträngen, die am Beginn nichts miteinander zu tun haben, eine immer engere Beziehung und Verknüpfung zu schaffen«, verriet Stangl in einem Interview in der Furche. Das sei für ihn das entscheidende Formprinzip. Mittlerweile zieht sich dieses Prinzip durch sechs Romane. Schon sein erster Roman, »Der einzige Ort« (2004), mit dem Stangl vielbeachtet an die Öffentlichkeit trat, macht diese Kompositionsform deutlich. Dass man in Stangl eine gewichtige Zukunft der österreichischen Literatur sieht, machte nicht zuletzt auch das von der Stadt Wien verlängerte Elias-Canetti-Stipendium deutlich.

»Ich kann ›Zukunft‹ nicht denken«, heißt es in »Quecksilberlicht«, einem der großen Würfe österreichischer Gegenwartsliteratur, poetisch: »Die Zeit mag weiterlaufen, doch zugleich verwirrt sich die Zeit, die Rollen sind unklar. Der Letzte sein, immerzu. Die Letzte sein, vor hundert Jahren, jetzt. Genau an diesem Tag, der keinem anderen gleicht.«

Video: Imogena Doderer (Gestaltung), Bernhard Höfer (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Gerald Heidegger/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)