›Archive des Schreibens‹, Folge 4

Abgründe des Bauernlebens

Erstausstrahlung im ORF: 11. Juli 2022
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 28. November 2022

 

Seine Protagonisten sind wortkarge Menschen, seine Romane fern von schnellen Wendungen. Seit Jahren arbeitet Reinhard Kaiser-Mühlecker an der Ausleuchtung des Bauernlebens. Das hat ihm den Ruf des großen »unzeitgemäßen« – man könnte auch sagen zeitlosen – Autors im deutschen Sprachraum eingebracht. Der selbst als Landwirt Tätige kümmert sich wenig um solche Zuschreibungen. Und punktet mit atmosphärischer Dichte, deren Sogwirkung kaum bestritten werden kann.

»Schreiben ist das Gegenteil von ›geht nicht‹. Und Landwirtschaft auch«, so beschreibt Kaiser-Mühlecker die Parallelen seiner beiden Professionen in ›Archive des Schreibens‹, jener ORF-Reihe, in der Autorinnen und Autoren über sich selbst sprechen. Bei Kaiser-Mühlecker ist die Landwirtschaft sowohl Berufung als auch Gegenstand seiner Literatur: Nachdem das Notwendigste erledigt ist, also Schafe und Schweine gefüttert sind, setzt sich der 1982 geborene Autor an den Schreibtisch, um »die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt«, wie er sagt. Für ihn ein »Gefühl einer Verpflichtung«.

Oberflächliche Effekte sind Kaiser-Mühleckers Sache nie gewesen. Thematisch mag es bisweilen Schnittmengen mit Kolleginnen wie Juli Zeh, Judith Hermann und Lola Randl geben, die gerade in den letzten Jahren das Thema Landleben für sich entdeckt haben. Womit sich Kaiser-Mühlecker jedoch deutlich unterscheidet, ist sein Schreiben aus der Innenperspektive heraus. Statt auf marktgängige Kriterien wie schnelle, griffig fassbare Plotentwicklungen setzt er seit seinem Debüt 2008 auf die Erschließung psychologischer Tiefenstrukturen – und eine hohe atmosphärische Dichte.

Experte der Nichtkommunikation

Seine in sich gekehrten Protagonisten haben oft selbst keinen sprachlichen Zugriff auf das, was sie umtreibt – und Kaiser-Mühlecker hat sich in den letzten Jahren als unumstrittener Könner dessen erwiesen, im Schreiben zu erschließen, was sich jenseits der Kommunikation abspielt, von den Nuancen des Schweigens bis zum subkutan brodelnden Stillstand. Das heißt, dass es sich trotz Handlungsarmut bei ihm gehörig abspielen kann.

Die oft archaisch geschilderte Welt ist von (inneren) Gräben durchzogen. Wie er diese Realitäten erschließt? »Ich komme mit Nachdenken nicht weit, ich komme nur mit Erzählen irgendwohin«, erzählt er in ›Archive des Schreibens‹. Die gefühlsmäßige, nicht die intellektuelle Durchdringung eines Gegenstands sei der wichtigste Ankerpunkt seiner literarischen Arbeit, hielt er einmal in einem Essay in der Anthologie »Zwischen Schreiben und Lesen« (Klever Verlag) fest.

Vom Schweinehof nach Bolivien und zurück

Dass er für seinen erzählerischen Zugang nicht nur vielfach gefeiert, sondern bisweilen auch als altmodisch gehandelt wird, scheint den Solitär Kaiser-Mühlecker grundsätzlich wenig zu kümmern. Nach seinem Erstling »Der lange Gang über die Stationen« (2008) über den oberösterreichischen Bauern Theodor, dem Mitte der 1950er Jahre Ehe und Hof zu entgleiten drohen, folgten sieben Romane und ein Erzählband.

Aufgewachsen ist Kaiser-Mühlecker auf einem Bauernhof im oberösterreichischen Traunviertel, unter »wahrscheinlich sehr einfachen Verhältnissen«, wie er sagt. Den stark eingeschränkten Radius verließ er zuerst mit dem Erwachsenwerden. Seinen Zivildienst machte er in Bolivien, an der Universität Wien studierte er Internationale Entwicklung und Geschichte, längere Zeit lebte er in Schweden. Bis er den elterlichen Hof übernahm.

Großstadt bricht ins Landleben ein

Nichts erfinden, Worte finden für Lebenswelten, die der Autor aus eigener Anschauung kennt: So zieht es Kaiser-Mühleckers Figuren bisweilen auch in fernere Destinationen. In »Schwarzer Flieder« (2014) etwa lässt er einen Bauernsohn bis nach Bolivien reisen, um die NS-Familiengeschichte zu ergründen. In »Fremde Seele, dunkler Wald« (2016) versucht die Schwester einer bäuerlichen Schicksalsgemeinschaft Richtung Schweden zu entkommen.

Im 2022 erschienenen Roman »Wilderer« ist es – nach »Enteignung« (2019) – einmal mehr die Großstadt, die in die ländliche Parallelwelt einbricht. Wobei sich »Wilderer« von allen Kaiser-Mühlecker-Romanen vielleicht am stärksten um das Nichtverhältnis von Bauer und Bobo dreht. Der Roman erzählt von Jungbauer Jakob, der von einem zähen Gemisch aus dysfunktionaler Großfamilie und Fallstricken der modernen Landwirtschaft zerrieben wird, aus dem ihn die Städterin und Künstlerin Katja nur für kurze Zeit rausbugsieren kann.

Die Zuschreibung einer zeitlosen Prosa steht dabei dem Bild einer genauen Gegenwartsdiagostik gegenüber: Mit schlichten, lapidar hingeknallten Sätzen wie »Im Radio lief eine Sendung über die Bedeutung des Nichtstuns« findet Kaiser-Mühlecker stimmige Worte für die über schwer überbrückbaren Gegensätze. In der Form sind Kaiser-Mühleckers Romane weder Heimatliteratur noch Antiheimatliteratur – »das haben schon andere geschrieben«, sagt er dazu.

Video: Imogena Doderer (Gestaltung), Marcus Walter (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Paula Pfoser/ ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)

Links

Kaiser-Mühlecker bei S. Fischer
Kaiser-Mühlecker im Gespräch mit Katja Gasser (Podcast zum Gastlandauftritt der Leipziger Buchmesse)

Reinhard Kaiser-Mühleckers ›Archive des Schreibens‹-Playlist

Tori Amos: »A sorta fairytale«
Attwenger: »Mei bua«
Caetano Veloso: »Sozinho«