›Archive des Schreibens‹, Folge 10

Schrecken und Schönheit der Welt

Erstausstrahlung im ORF: 4. Jänner 2023
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 16. Jänner 2023

 

Mit ihrem zweiten Roman »Winters Garten« hat sie den Durchbruch geschafft, seitdem ist die Grazer Fotokünstlerin und Autorin Valerie Fritsch eine fixe Größe in der deutschsprachigen Literatur. Wie wichtig es ist, den gleichzeitigen Schrecken und die Schönheit der Welt auszuhalten, und welches Glück es für sie bedeutet, über Abgelegenes zu recherchieren, erzählt sie im ORF-Gespräch. Letztlich gehe es um genaues Hinschauen mit einem »anatomischen« Blick.

Schon früh hat Fritsch alles auf eine Karte gesetzt und ist als Autorin hervorgetreten. Als Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform hat sie ihren ersten Roman »Die Verkörperungen« (2011) mit 22 herausgebracht, ein Bildband mit Reisebriefen und der Lyrikband »Kinder der Unschärferelation« (2015) folgten. Der Durchbruch kam 2015 mit »Winters Garten«, verlegt bei Suhrkamp und von der Kritik gepriesen.

Mehr als die Handlung, die sich in einem nicht genau bestimmbaren apokalyptischen Setting rund um den Vogelzüchter Anton Winter abspielt, der auf einer Hochhausterrasse inmitten von Käfigen wohnt, beeindruckte Fritschs Sprache. In geradezu barocken Tableaus präsentiert Fritsch hier Bilder- und Metaphernansammlungen, die zwischen Schönheit und Schrecken hin- und herspringen.

In Schönheit erstarrte Horrorbilder

Bilder wie die Fehlgeburten von Antons Großmutter, die in Formalin eingelegt im Keller in Gläsern aufgereiht stehen, würden anderswo als Inventar dienen, um Horror und Schauder auszulösen – bei Fritsch werden sie zu Bausteinen einer Welt, die emotional und erzählerisch überbordet. Den Grundstoff für ihre Texte findet sie dabei in umfangreichen Recherchen, die sowohl am Schreibtisch wie auch auf ausgedehnten Reisen stattfinden.

Ob sie nun eine Woche in Fachliteratur zur Amputation von Gliedmaßen versinkt – ihr Beitrag »Das Bein« zum Bachmannpreis 2015 handelte davon – oder Recherchereisen unternimmt, ihr Interesse an der Welt nennt sie »anatomisch«. Ein genaues, offenes Betrachten und Wiedergeben, das trotz aller Verdichtung in ihren Texten niemals ins Tendenziöse – Kitsch auf der einen, Horror auf der anderen Seite – abgleitet.

#fünfzehnmillionenmeter

Im Gespräch sagt sie: »Ich habe irgendwann gemerkt: Jeder Ort ist bereisbar, auch wenn man sich das am Anfang ja gar nicht vorstellen kann.« Es überwögen meist die Vorurteile, bevor einem die Erfahrung zeige, wie es wirklich ist. »Das Reisen hat mein Verständnis für die Welt geschärft, wie Dinge anders sein können. Das Andere und auch das Schreckliche und Armut – wie schaut das genau aus? Man ist dem doch oft sehr, sehr fern.«

Für ihren Roman »Herzklappen von Johnson & Johnson« (2020) fuhr sie mit dem Auto bis nach Kasachstan. Die Reise dauerte über vier Monate und ist auf zahlreichen Polaroids dokumentiert, die Fritsch später unter dem Hashtag #fünfzehnmillionenmeter auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichte.

Erzogen zum Verschwinden

War die Beschäftigung mit schwierigen Familienkonstellationen schon in »Winters Garten« Thema, stellte Fritsch diese in den Mittelpunkt von »Herzklappen von Johnson & Johnson« – eine Geschichte rund um eine junge Frau namens Alma, in deren Familie seit Generationen ein beklemmendes Schweigen herrscht.

Es ist eine Familie, in der man »die Kinder zu vorsichtigen, stillen Wesen heranzog, die nicht stören sollten in dieser Welt, kleinen Menschen, die mit großer Ernsthaftigkeit vermieden, eine Last zu sein, aber versuchten, jene diffuse Traurigkeit auszugleichen, die stets in der Luft lag«.

Generationenübergreifendes Trauma

Ausgangspunkt dieser generationenübergreifenden Weitergabe von Traumata ist Almas Großvater, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte und Jahre als Kriegsgefangener in Kasachstan zubringen musste. Je älter Alma wird, desto mehr begreift sie, dass etwas an ihr zehrt, das eigentlich nichts mit ihr zu tun hat. Als sie – längst erwachsen geworden – mit ihrem Partner Friedrich einen Sohn namens Emil bekommt, befürchtet sie, auch diesen damit zu belasten.

Erst spät wird Alma klar, dass Emil gegen das familiäre Trauma immun ist. Er leidet an einem seltenen Gendefekt, der es ihm unmöglich macht, Schmerz zu empfinden. Alma und Friedrich müssen Emil ständig überwachen, ihm langwierig begreifbar machen, was Schmerz ist. Alma erklärt ihrem Sohn, »er müsse sich den Schmerz als eine Art Traurigkeit des Körpers vorstellen, als einen Liebeskummer der Hände, Arme und Beine«.

Dass Fritsch damit auf Österreichs NS-Geschichte abzielt, wird im Laufe des Buchs immer deutlicher. Dabei fällt auf: Fritsch geht es um die Perspektive und um das Vertrauen in aufwendig gearbeitete Sprache. Im gesamten Buch gibt es keinen Dialog – der Blick der Erzählerin trägt es. Schließlich geht es um das genaue Hinschauen, wie sie im Gespräch sagt: »Genau hinschauen ist nicht immer lustig, aber ich glaube, es ist unvermeidlich – einerseits als Mensch und anderseits als Künstler. Wer als Künstler die Augen zudrückt, ist glaube ich ganz und gar fehl am Platz.«

Video: Sophie Weilandt (Gestaltung), Mario Hötschl (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Florian Baranyi/ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)