Der »verwunderte Blick« der Ana Marwan
Erstausstrahlung im ORF: 23. Juni 2025
Erstveröffentlichung auf ORF Topos: 30. Juni 2025
Vor drei Jahren hat Ana Marwan mit ihrem Text »Wechselkröte« den Bachmannpreis gewonnen. Tiere sind genauso wie Einsamkeit ein wiederkehrendes Thema in ihren Texten, die sie auf Slowenisch und Deutsch verfasst. Am meisten beschäftige sie »die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Anpassung und Freiheit«, sagt sie im ›Archive des Schreibens‹-Interview. Die Einsamkeit ist für Marwan eine Notlösung, um dieses Gleichgewicht auszutarieren.
»Der Text spricht viel besser als ich«, so Marwan bei der Ingeborg-Bachmann-Preisverleihung 2022: In »Wechselkröte« berichtet eine Ich-Erzählerin von den wenigen sporadischen Besuchen in ihrem Haus, in dem sie zurückgezogen lebt. Der Briefträger, für den sie sich nur für den Fensterblick anzieht, und der Gärtner, dem sie vollständig bekleidet entgegentritt und mit dem sie die Welt der Farben erkundet, sind die wenigen Figuren, die ihre Einsamkeit durchbrechen. »Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich geworden ist«, heißt es in dem Text, der für viele als subtile Verarbeitung der Pandemiejahre lesbar war.
In Zeiten der Pandemie lebe man nur noch im Sommer »ganz«. Alles in Marwans Welt ist aus der Übung gekommen: »Gelsennetze sind aus – das ist geteiltes Leid.« Die Welt, sie lässt sich nicht »mit 40 Grad bunt waschen« und auch nicht »ergooglen«. Über ihr Schreiben sagt Marwan im Archive-des-Schreibens-Interview: »Ich glaube, dass ich am meisten daran leide, dass gewisse Dinge nicht ungeschehen gemacht werden können. Das ist der Grund, warum ich schreibe.«
Fremdsprache hilft bei »verwundertem Blick«
Das Schreiben der 1980 im damals jugoslawischen Murska Sobota geborenen Marwan geschieht auch zwischen Slowenisch und Deutsch. Ihren 2019 erschienenen Debütroman »Der Kreis des Weberknechts« schrieb sie auf Deutsch, ihren zweiten Roman »Zabubljena« publizierte sie 2021 auf Slowenisch. Die deutsche Übersetzung von Klaus Detlef Olof erschien 2023 als »Verpuppt«. Sie selbst findet es für ihre Kreativität gut, »ein Werkzeug zu haben, das nicht so selbstverständlich ist wie eine Muttersprache«.
Dieser Umweg erlaube ihr einen »verwunderten Blick« auf die Welt. Resultat dieses Blicks sind ungewöhnliche, herausfordernde Erzählhaltungen. Klassisches Erzählen übt auf Marwan wenig Reiz aus: »Wenn man erzählt, wiederholt man einfach Dinge, die passiert sind, und das finde ich einfach faul.« In »Verpuppt« dauert es lange, bis man sich orientiert hat, wer denn hier wem was erzählt.
Klassisches Erzählen ist »faul«
In dem fragmentarisch aufgebauten Text schildert die Protagonistin dieser Coming-of-Age-Geschichte, wie sie den 30 Jahre älteren Herrn Jež kennenlernt, den sie als Seelenverwandten betrachtet. Die beiden befinden sich in einer psychiatrischen Abteilung, in die Rita von ihrer Mutter eingewiesen wird. Ob Ritas Erzählung eingebildet oder echt ist, ob Herr Jež wirklich existiert, ob der ganze Text etwa nur aus Therapiegesprächen oder schreibtherapeutischen Übungen besteht, bleibt ungewiss – und macht die Spannung des Romans aus.
In »Der Kreis des Weberknechts« wiederum verrennt sich Marwans misanthropischer Protagonist Karl Lipitsch in seinen eigenen Theorien. Er nimmt ein Sabbatical, um seine große philosophische Abhandlung über das Leben als Wiederholung zu schreiben – ein Gedanke, der immer wieder dadurch auf die Probe gestellt wird, dass er seine Nachbarin Mathilde kennen- und lieben lernt. Marwan ist eine Meisterin darin, Schilderungen kippen zu lassen. Gerade auch der mit ironischer Distanz geschilderte Lipitsch kippt und muss einen ganzen gedanklichen Kreis in seinem Konstrukt vollziehen.
Auf den Hund gekommen
In ihrer jüngsten Veröffentlichung »Sei Erich« (2023), einem Zyklus von Kurzprosa mit Offset-Farblithografien von Regina Hadraba, der um die Beziehung zum Hund Erich kreist, stellt Marwan grundsätzliche Überlegungen zu den Grenzen der Sprache an: »Er sitzt, gibt Pfote und rutscht, während ich seine Pfote halte, langsam in den Platz hinein. Sicherheitshalber, um die Wahrscheinlichkeit der Belohnung zu erhöhen, von der Möglichkeit eines Missverständnisses ausgehend. Ich würde gerne wissen, ob er weiß, dass er Erich ist. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich glaubt er, Erich heißt Komm! Oder Nein!«
Über ihr Verhältnis zu Tieren, die in ihren Texten auch immer als Leinwände für die inneren Farben der Erzählerinnen fungieren, verrät sie im Archive-des-Schreibens-Interview: »Ich weiß, dass meine Liebe zum Hund hundertprozentig ist – und ich bin mir nicht sicher, ob sie hundertprozentig bleiben würde, wenn er reden könnte.«
Video: Katja Gasser (Gestaltung), Bernhard Höfer (Kamera), Yannick Kurzweil (Produktion)
Text: Florian Baranyi
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